Es ist schon einige Zeit her, dass das Porträt-Bild „Edmond de Belamy“ für 380.000,00 Euro bei Christies versteigert wurde. Es war das erste Werk eines „digitalen Autors“, das auf diese Weise das Licht der Kunstwelt erblickte. Die Feuilletons schrieben über das computergenerierte Bild und den sensationellen Preis, den es erzielen konnte. Vier wichtige Institutionen für die „Kunstwerdung“ von Objekten waren damit versammelt, eine Künstlergruppe mit aktueller Software, ein international bekanntes Auktionshaus, ein Käufer und reichweitenstarke Medien, die eine interessante Story zu erzählen hatten. Das Datum dieses Verkaufs wird deshalb mit Sicherheit zu einem Datum der Geschichte der Kunst werden.
Somit sind Überlegungen nötig, mit welchem theoretischen Instrumentarium man sich Kunstwerken derartiger „Autoren“ zuwendet. Die mit Schreibschrift ausgeführte Signatur scheint sie zunächst zu beantworten. Sie lautet „min G max D Ex[log(D(x))]+Ez[log(1-D(G(z)))]“ und bezeichnet eine zentrale Komponente des dem Bild zugrunde liegenden Algorithmus. Ohne die Beschäftigung mit der Technik der Künstlichen Intelligenz wird es anscheinend bei einer Betrachtung nicht gehen. Da Technik nicht autonom agiert, bleibt die Beschäftigung mit den Entwicklern, Anwendern sowie mit den Voraussetzungen für die Integration der technischen Möglichkeiten in die Kunst allerdings mindestens genauso wichtig. Deshalb zunächst zu ihnen: Die Gruppe Obvious aus Paris, bestehend aus Gauthier Vernier, Pierre Fautrel und Hugo Caselles-Dupré, zeichnete für das Projekt verantwortlich. Das Generative Adversarial Networks, also ein Machine-Learning-Algorithmus, wurde von den drei Künstlern mit historischen Porträts trainiert und generierte eine Reihe von 11 Porträts, von denen eines in die Auktion gelangte. Eine wichtige Fragestellung hinter dem Projekt wurde von Obvious so formuliert:
„Auch im Bereich der Kunst werden viele Fragen aufgeworfen. In der zeitgenössischen Kunst standen Künstler immer im Mittelpunkt des Werkes und das Werkzeug war das Instrument, um Emotionen auszudrücken und weiterzugeben. Hier ist das Werkzeug näher am Zentrum des Werkes, auch wenn der Künstler hinter dem Algorithmus der ‚echte‘ Künstler bleibt. Die Absicht und Inspiration kommt von dem Menschen, der den Algorithmus entworfen und benutzt hat. Demzufolge war die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine noch nie so eng. Dieser Ansatz wird wahrscheinlich zur Entstehung einer neuen Art von Kunst führen. Sie wird die Künstler auf keinen Fall ersetzen, sie bringt eine neue Perspektive hervor. Wir glauben, dass der Wert dieses Projekts eher in der Debatte liegt, die es auslösen kann, und in der Präsentation dieser neuen Werkzeuge in der Öffentlichkeit.“ [1]
Die Möglichkeit von AI-generierten Kunstobjekten scheint die Künstler trotz ihrer digitalen Kompetenz etwas zu beunruhigen, ansonsten wäre die Betonung einer herausgehobenen Rolle des Künstlers hinter der AI nicht zwingend notwendig, denn kunsttheoretisch spräche nichts gegen die interessante Idee einer von der Rolle des Künstler autonomen „Kunstmaschine“.
Marcel Duchamp hätte wohl seine Freude daran gehabt. Die gewählte Begrifflichkeit des „echten“ Künstlers bestärkt diese Vermutung eines unterschwelligen Unwohlseins ein weiteres Mal, wirft sie doch die Frage nach dem Gegenbild zu „echt“ und damit nach den Kriterien der Differenzierung zwischen Künstlern und echten Künstlern und anderen Personen, die Software benutzen, auf. Gleichwohl sind Debatten, die sich mit den Auswirkungen der neuen Technologie in der Kultur befassen und von den Urhebern des Porträts mit angestoßen werden, unbestreitbar wichtig, weshalb der Beitrag der Gruppe und der Verkauf des „AI-Gemäldes“ für die nötige Publizität und weiterführende Überlegungen sorgen werden. Die für mich interessanten Debatten drehen sich einmal um Prozesse, die mit nachvollziehbaren Regeln Kunstwerke erzeugen, zum anderen um mit nur sehr schwer nachvollziehbaren Regeln generierte Kunst und zu guter Letzt um die mit technischen Systemen generierte Kunst, die aufgrund eines Lernprozesses des verwendeten Systems einmal aufgestellte Regeln modifizieren kann und Emergenz produziert. Weitere interessante Themenbereiche sind die „klonartige“ Reproduzierbarkeit digitaler Kunstwerke, genauso wie Fragen nach der Anerkenntnis derartiger Werke im Feld der Kunst. Und natürlich sollte man nicht die mit dem Einsatz digitaler Techniken entstehende Delokalisierung vergessen, also den möglichen Wegfall von Orten der Kunst wie Atelier oder Galerien: Der digital arbeitende Künstler wird ebenso wie seine Sammler und Rezipienten von herkömmlichen räumlichen Bindungen bei Produktion und Vermarktung zunehmend freier werden.
Alleine schon die Beschränkung auf geregelte Produktionsweisen von Kunstwerken führt zu interessanten Erkenntnissen. So ist die Frage nach Regelsystemen bei der Ausführung von Kunstobjekten nicht neu, wir kennen sie aus der Geschichte der Kunst. Gemälde, die durch strenge Verfahrensregeln bezüglich Objekt, Arbeitsweise und Motiv gefertigt wurden, sind aus dem 19. Jahrhundert bekannt und gehören seitdem zum Inventar der Kunstproduktion.
Die Bilder beruhen auf penibel befolgten und selbst aufgestellten Regeln des Malers, die seine Arbeitsweise festlegten. Und Monet war der erste Künstler, der derartige systematisierte Werkreihen auch öffentlich präsentierte und damit die wichtigen Wahrnehmungsräume für diese neue Praxis der Kunst öffnete. Im Jahr 1891 wurden in der Galerie Paul Durand-Ruel 15 Varianten des Getreideschobers und einige Jahre später 28 Varianten der Kathedrale jeweils in einer einzigen Ausstellung gezeigt. Diese Anfänge der regelbasierten Serialität bei Monet gehen mit der technischen Entwicklung und mit der Kenntnis der methodengestützten experimentellen Reihen in den Wissenschaften einher. Allerdings sind diese Serien von Monet überwiegend von Erkenntnisinteressen beim Erfassen wechselnder Stimmungsaugenblicke und ihren Eindrücken getragen.
Wie dieses Beispiel zeigt, benötigen derartige künstlerische Arbeitsweisen mehrere zentrale Elemente. Einmal eine serientaugliche Idee, dann eine Form der Ausführung, die die nach der Idee hergestellten Kunstobjekte Dritten gegenüber als zusammengehörig erkennen lässt, sowie geeignete Herstellungsbedingungen und geeignete Herstellungsmaterialien, deren physikalische und semantische Eigenschaften (auch Materialien sind nicht „bedeutungsfrei“) den notwendigen Zusammenhang einer Serie nicht sprengen.
Für Sol Lewitt war beispielsweise das seinen Arbeiten zugrundeliegende Konzept die zentrale Instanz, da ein Konzept alle Planungsschritte und Entscheidungen umfasste und die Ausführung der Arbeiten später deshalb mehr oder weniger mechanisch stattfinden konnte. Die Planung und Entscheidung des Künstlers waren für die Kunstwerke essentiell, die Ausführung wurde zur Nebensache und blieb anderen überlassen, heute gegebenenfalls einer Software. Bei dem 2007 verstorbenen Künstler bezog sich die künstlerische Konzeption auf ein homogenes geometrisches Formensystem, mit dem alle bildnerischen Realisierungen des Künstlers verbunden blieben.
Neben dem in einer zusammenhängenden Formsprache gründenden Konzepten, bei denen ein Formsystem die abgeleiteten formalen Einfälle prägt, gibt es ebenfalls Konzeptideen, die Formsysteme einsetzen, um den Künstler als vollständig der Zeit unterworfenes Subjekt zu thematisieren. Der Aspekt der Zeitlichkeit, der bei Monet als Konzept erstmalig präsent war, findet sich Jahrzehnte später etwa bei dem polnischen Konzeptkünstler und Maler Roman Opalka oder bei dem japanischen Künstler On Kawara. Es handelt sich hier allerdings nicht um die Rhythmen der jahres- oder tageszeitlichen Lichtstimmung wie noch bei Monet, sondern um die bei der Produktion von seriellen Werken verstreichende Lebenszeit der ausführenden Künstler. Bei den Bildern Roman Opalkas, die aus einer Reihung aufeinander folgender und immer heller werdender gemalter Zahlen bestehen, wird der Aspekt deutlich. Hier „zeigt“ gewissermaßen die Umsetzung eines Konzepts auf etwas, nämlich die bei dem dauerhaften Befolgen einer Regel verstreichende soziale und biologische Zeit desjenigen, der beim Malen die selbstgestellten Regeln konsequent befolgt und altert. Die Arbeiten von On Kawara erweitern diese Arbeit „in der Zeit“ um variierende Aufenthaltsorte im Raum und verweisen durch die regelmäßige Information seines Umfelds beständig auf den Sachverhalt, dass er noch am Leben sei. Es ist ein wichtiger Hinweis auf die Tatsache, dass die eigenhändige Ausführung derartiger Werkserien erst durch die Hinfälligkeit oder den Tod des Ausführenden unterbrochen wird. Der Sachverhalt berührt den Kern der Arbeitsweise beider Künstler.
Um bei Opalka zu bleiben, ließen sich von einem technischen System erzeugte zusammenhängende Zahlenreihen in entsprechenden Farbnuancen als 3D-Druck auf Bildträger drucken oder per integriertem Roboterarm malen. Die Unregelmäßigkeit der manuellen Ausführung wäre mit einem Konzept von Variablen, die auf die Darstellungslogik der Zeichenfolgen einwirken, vergleichsweise einfach nachzuahmen. Auch könnte so etwas wie „individuelle Handschrift“ von einer AI gelernt werden. Fehlen würde jedoch der Aspekt des bei der Erstellung der Serien verstreichenden bewussten Lebens, wie es sich im Werk Opalkas zeigt. Um diesen Sachverhalt in ein derart technisch begründetes Kunstkonzept mit einzubringen, würde ein in den technischen Prozess eingebundener menschlicher Akteur nötig, also jemand, der den Vorgaben des Algorithmus folgt und diese dann innerhalb einer langen Zeitspanne dauerhaft reproduziert.
Eine derartige Rolle bei der Kunstproduktion wirkt allerdings dystopisch, denn diese Reproduktion der nur einseitig gerichteten computergenerierten Vorgaben wäre ausschließlich fremdbestimmt. Es würde sich nicht um einen ritualisierten Akt der Kunstproduktion handeln, wie er von Opalka gepflegt wird und der mit einer Art von meditativer Tätigkeit in Verbindung gebracht werden kann, die nahezu liturgischen Charakter hat.
Anders als in dem Statement der Gruppe Obvious würde eine Maschine – der von ihnen als „Werkzeug“ bezeichnete Algorithmus – die Verhältnisse umkehren und den künstlerischen Akt bestimmen. Der in eine Ausführungsroutine eingebundene Künstler würde im Wesentlichen seine Lebenszeit beisteuern. Dass die Digitalisierung mit ihren Lösungen beim Verzehr von Lebenszeit tatsächlich ein großes Potential birgt, lässt sich an unserem schnell wachsenden Zeitverzehr im Umgang mit den Produkten des digitalen Alltags ablesen. Auch Künstler sind davon betroffen. Insofern wäre es vielleicht spannender, konzeptionell die Komplexität derartiger Sachverhalte ins Werk zu setzen, als an Porträts im historischen Duktus anzuknüpfen und diese AI-gestützt neu zu erfinden. Die künstlerische Provokation einer computergenerierten Kunstproduktion kunstgeschichtlicher Klassik mit Künstlern als Trainern einer entsprechend produzierenden AI ist eigentlich keine, zumal der Sinn der experimentellen Anwendung auch anders gesehen werden könnte: „Accomplished by appropriate image analysis techniques this might allow us investigating the temporal development of artworks (and even the detection of forgeries).” [2] So kann ein wie Rembrandt malender Algorithmus genauso zum Malen weiterer Bilder im Stil von Rembrandt genutzt werden, insbesondere aber zur Analyse der Echtheit von Bildern Rembrandts. In Zeiten höchster Kunstpreise und mit Fälschungen überschwemmter Märkte ein rentables Unterfangen.
Für mich ist interessant, daß keiner der Künstler der digitalen Avantgarde einen Algorithmus mit Bildern unbekannter Künstler aus der dritten oder vierten Reihe trainiert. Dies könnte die eingangs ebenfalls gestellte Frage nach dem Anerkenntnis von AI-produzierten Kunstwerken beantworten: Ein Bild eines solchermaßen auf das künstlerische „Mittelmaß“ (gemeint ist Mittelmaß hinsichtlich der Marktordnung!) trainierten Algorithmus wäre nicht in einer Auktion bei Christies gelandet, sondern wahrscheinlich in einer eher kleinen Autorengalerie, obwohl es für die Lebendigkeit des Kunstdiskurses möglicherweise die spannendere Variante gewesen wäre.